Pflanzenatem / Wolkenatem - Plantbreath / Cloudbreath


"Und was du hast, ist/ Atem zu holen"
Raum für Pflanzen, Orangerie Kirchberg / Jagst, Germany

2011








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Eröffnungsrede Dr. Günter Bonheim, Maienfels

„Und was du hast, ist/ Athem zu hohlen“
Eine kinetische Installation

Meine Damen und Herren,
die bunten Gebilde, die Sie hier im „Raum für Pflanzen“ der Orangerie sehen können, die Kunstobjekte dieser Ausstellung, haben etwas mit „Natur“ zu tun. Darauf deutet schon der Name dieses Orts hin, und das entspricht, wie ich weiß, auch den Vorstellungen derer, die diese Objekte geschaffen haben. Deshalb möchte ich mit ein paar Gedanken zu der Frage beginnen, was man eigentlich sagt, wenn man von Natur spricht.
Der Begriff der Natur begegnet häufig in Verbindungen, in denen ein anderer Begriff zu ihm in Opposition gesetzt wird. „Natur und Kultur“ ist von dieser Art, „Natur und Technik“, „Natur und Kunst“. Alle diese Gegensatzpaare haben miteinander gemein, daß sie unmittelbar einleuchtend erscheinen, daß man, beim Hören oder Lesen, sofort zu wissen glaubt, was mit ihnen gemeint ist. Sucht man die jeweiligen Differenzen jedoch genau zu benennen, dann wird wahrscheinlich, was sich spontan von selber verstand, zunehmend unklar. Denn: Alle eben genannten Gegensätze lassen sich letztlich auf eine einzige Opposition zurückführen, auf diejenige von Natur und Mensch − da nun aber der Mensch selber ein Teil der Natur ist, warum sollen oder wie können dann seine Hervorbringungen wie Technik und Kunst etwas vollkommen anderes sein? Mit welchem Recht oder mit welcher Begründung läßt sich, im Unterschied zum Nest eines Vogels, ein Gebäude wie dieses hier zur Nicht-Natur erklären? Und wie verhält es sich mit einem Garten?
So spricht manches dafür, das, was Natur ist, ganz anders in folgender Weise zu bestimmen: Natur, das ist das Allumfassende, das ist die Gesamtheit des Seienden, oder, wie Jacob Böhme sagt: „Außer der Natur ist das Nichts“. Und für den Menschen als einem Teil von ihr gilt mithin: Er kann die Natur nicht zerstören – das wäre vermessen zu glauben –, er kann sie nur umgestalten. Kunst und Technik sind Mittel dazu, Kunstwerke und technische und industrielle Einrichtungen sind umgestaltete, vom Menschen veränderte Natur. Im Unterschied zur Technik jedoch ist es seit jeher das Anliegen der Kunst, die Stellung des Menschen innerhalb und als Teil der Natur zu reflektieren, und das eben nicht abstrakt-philosophisch, sondern indem sie sich dazu der von der Natur angebotenen Materialien bedient. Die auf uns überkommenen Werke, die religiösen Bildnisse, die Landschaftsdarstellungen, Porträts und Stilleben etc. zeugen auf je eigene Weise davon. Besonders deutlich indes tritt der Reflexionscharakter der Kunst seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts durch ihre demonstrative Abkehr von naturgetreuen Abbildungen hervor. „Dies ist keine Pfeife“ schrieb René Magritte auf ein Bild, auf dem eine Pfeife zu sehen ist. „Dies sind keine Seerosen“, hätte Claude Monet im Vorgriff darauf viele seiner Bilder betiteln können, wenn ihm an einer entsprechenden Irritation bereits gelegen gewesen wäre. Und auf diesem Weg, dem Weg eben auch der Verunsicherung des Betrachters, schritt die Kunst in der Folge dann weiter fort. Ich weiß noch, wie ich in den siebziger Jahren in der Neuen Galerie Aachen fasziniert vor den dort aufgebauten zwei Kamelen der amerikanischen Künstlerin Nancy Graves stand. So nahe man auch an sie herantrat, so sehr man unerlaubterweise nachfühlte, sie wirkten völlig wie ausgestopfte Tiere, aber keines der Materialien, aus denen sie gebastelt waren, stammte tatsächlich von einem Kamel. Inzwischen hat die Industrie auf diesem Gebiet, unter Verzicht auf einen entsprechenden geistigen Anspruch, bekanntermaßen nachgezogen. Über das Verhältnis von Kunst und Natur denken die Produzenten der Pflanzenimitate, die Gaststätten und andere Lokalitäten zieren, sicher kaum mehr nach als jene Heuschrecke, die sich selber als Blatt zu tarnen versteht.
Von einer ganz anderen Art ist da die Installation des Künstlerpaars Bettina Bürkle und Klaus Illi, die hier im „Raum für Pflanzen“ zu sehen ist. Zwar geht es auch in ihr, das läßt, wie gesagt, der Name des Ausstellungsorts und die mit ihm verbundene Konzeption bereits vermuten, um Pflanzliches, doch sind vergleichbare Täuschungen durch die Objekte wie bei Nancy Graves weder beabsichtigt noch real zu erwarten. Das heißt, wenn bei jener die Irritation darin bestand, daß die von ihr geschaffenen Objekte im wesentlichen unverändert, also lediglich präpariert oder konserviert, der belebten Natur entnommen zu sein schienen, so irritiert hier im Gegenteil, daß die Objekte etwas zu sein vorgeben, was man nur mit einer gewissen Bereitwilligkeit in ihnen entdecken kann. Oder anders: Was in den Kunst-Kamelen einander so nahegebracht wurde, daß es fast untrennbar in eins zusammenzufallen schien, das fällt hier so weit auseinander, daß es letztlich dem Blick und Intellekt des Betrachters überlassen bleibt, zwischen beidem eine Verbindung herzustellen. Denn zunächst, und das von Wahrnehmung zu Wahrnehmung mehr, fallen die Differenzen ins Auge. Allem voran: Es fehlt das Grün, die Pflanzenfarbe schlechthin, die man, wenn es um vegetabiles Leben geht, als dominante erwartet. Mit Blau, Gelb und Weiß, die statt dessen den Raum beherrschen, lassen sich zwar sehr gut Blumen oder Früchte assoziieren, doch paßt zu denen nicht die fehlende farbliche Nuancierung der Objekte, auch sind die Farben selber nicht von der Art, wie man sie etwa von einer Blumenwiese her kennt. Sie leuchten nicht, sie glänzen, ein Umstand, der natürlich vor allem dem mit ihnen eingefärbten Material geschuldet ist, einem industriell gefertigten Ballonstoff, bei dessen Auswahl sicher auch nicht das Bemühen um eine Ähnlichkeit im Vordergrund stand. Und dann schließlich die Form der Objekte: rundlich wie Früchte und Knospen die einen, länglich wie Bäume und Stengel die anderen, doch von einer Ebenmäßigkeit und Symmetrie, wie sie innerhalb der Botanik allein in der vom Menschen geordneten und beschnittenen wie etwa in französischen Gärten vorkommt. Und als letztes noch, die am Boden sich schlängelnden Schnüre zeigen es an: Bei den so sonderbaren Pflanzen handelt es sich um Maschinen.
Das heißt, wenn Kunst, um an die Überlegungen von vorhin anzuknüpfen, letztlich immer auch ein Versuch ist, der Natur auf die Spur zu kommen, dann ist in diesen Versuch hier ganz evident auch die Technik mit eingebunden. Sie ergänzt und vollendet damit eine Darstellung, die nicht durch Ähnlichkeit, sondern gerade durch Unähnlichkeit, durch eine deutliche Diskrepanz aufmerksam machen und zu denken geben möchte und damit einem Verfahren folgt, das bereits in der Zeit der Spätantike seine theoretische Fundierung erhielt. Weil das Göttliche, das Himmlische in seiner Größe und Schönheit ohnehin nicht vorstellbar sei, so der um 500 lebende Dionysius Areopagita, solle man auf jede auf Ähnlichkeit zielende Vorstellung verzichten und statt dessen solche Bilder sich vor Augen führen, die dem heiligen Gegenstand im Gegenteil möglichst unangemessen seien und sogar von monströsem Charakter sein könnten. So wären sie immerhin geeignet, den Geist über die gewöhnlichen, aber eben in die Irre führenden Vorstellungen emporzuheben. Solche Gedanken spielten später eine wichtige Rolle innerhalb der mittelalterlichen Mystik und nahmen Einfluß auf die Entwicklung der romanischen Kunst. Ich denke, ein Nachhall ist auch noch in Werken der Moderne und Gegenwartskunst wie diesem hier zu spüren.
Doch ist bislang eines, und zwar das wohl wichtigste an dieser Installation überhaupt, noch weitgehend außer Betracht geblieben: Die Objekte sind nicht regungslos oder gar starr, sie bewegen sich, durch die Arbeit der Maschinen strömt Luft in sie ein und aus, sie scheinen, worauf auch der Titel der Ausstellung abhebt, zu atmen. Und was damit, auch dieses wiederum, in bezug auf die Natur pflanzlicher Lebensformen eher befremdlich erscheinen muß, das rückt zugleich auffällig, als etwas hiermit sich unmittelbar Verbindendes, die Natur des Menschen in den Blick. Die bunten Gebilde, in denen sich einerseits wie im Zeitraffer zu ihrer vollen Größe entwickelnde Gewächse erkennen lassen, sie muten andererseits wie überdimensionierte Atmungsorgane an, die im Wechsel sich aufblähen und in sich zusammenfallen. Der Betrachter aber sieht sich angesichts dieser ambivalenten Erscheinung vor die Aufgabe gestellt, zwischen beidem eine möglichst erhellende gedankliche Verknüpfung herzustellen: Was will uns das Motiv des Atmens in diesem Ensemble künstlicher vegetabiler Formen zu verstehen geben? Mancherlei mag einem dazu spontan in den Sinn kommen, über die Bedeutung komplementärer Stoffwechselprozesse etwa und die darin wurzelnde symbiotische Beziehung von Pflanze und Mensch; ich denke mir, im Rückgriff auf die Überlegungen vom Anfang, folgendes: Der Atem ist das, was den Menschen am unmittelbarsten daran erinnert, daß er keine autonome Existenz ist, daß der Austausch mit der ihn umgebenden Natur keinerlei Unterbrechung duldet, daß er sich aus ihr nie herausstehlen, geschweige denn, daß er sich über sie erheben kann. So wie die Luft, die er zum Atmen braucht, beständig von der Natur außerhalb für ihn bereitgehalten werden muß, so muß seine eigene Natur beständig in der Lage sein, das für sie notwendige Atemholen zu leisten und die eingeatmete Luft für das Funktionieren seines Organismus zu nutzen. Das deutet in seiner Unabänderlichkeit auf das Gebrechliche des menschlichen Daseins hin; und insofern ist gewiß nichts dagegen zu sagen, wenn im Einbezug und in der künstlerischen Akzentuierung dieses Motivs auch ein Hinweis auf die stete Bedrohung gesehen wird, unter der sich jedes Leben vollzieht. Man kann aber freilich auch, und einen solchen Zugang zum Werk ziehe ich persönlich vor, im unausgesetzten Atmen-Müssen ein anvertrautes Atmen-Können sehen, die Teilhabe an der Natur also und damit vor allem das Geschenk.
Ich möchte schließen mit einem Gedicht, in dem ich einiges von dem Gesagten wiederzufinden glaube. Es stammt von dem Maler und Bildhauer Hans Arp und ist ein poetisches Gedenken an seine verstorbene Frau, die Malerin und Bildhauerin Sophie Taeuber. Wegen der Länge des Gedichts gebe ich es hier nur in Auszügen wieder. Ich greife dabei vor allem jene Passagen heraus, in denen vom Atmen die Rede ist, das auch hier – interessanterweise – alleine zur außermenschlichen Natur in Beziehung gesetzt wird. Und was, denke ich, ebenfalls nicht ohne Bedeutung ist für das Verständnis des Textes: Sophie Taeuber war an einer Kohlenmonoxidvergiftung gestorben; gut vorstellbar, daß in Arps wiederholte Verwendung des Worts auch die Erinnerung daran sich mischt.

Sophie

Sophie tröstet mich.
Ich beklage mich, daß immer mehr düstere Zweige mir die Tiefe des Himmels vergittern.
Sophie antwortet mir, daß der Himmel durch sanftes Blühen verdient werden müsse.
Die Größenverhältnisse der Dinge, die uns umgeben, ändern sich.
Die Schneeglöckchen sind nun größer als die ausgewachsenen Tannen.
Sophie verscheucht die mächtigen ledernen Schatten.
Auf ihre Bitte hin atmen geisterhaft geschminkte Zypressenalleen das Finstere ein.

[…]

Sophie liebte ihren Garten herzinniglich.
Wenn er blühte, besuchte sie ihn zwischen jedem Traum, zwischen jeder Arbeit an ihren Bildern.
Fürsorglich begrüßte sie ihn und zeichnete jede Blume im einzelnen durch besondere Gebärden, Reverenzen, Verbeugungen aus.
Sie versprach, ihnen holdselige feenhafte Denkmäler in ihren Bildern zu errichten.
Sie nannte die Blumen mit besonderen Namen: schwanengleiche Flamme, zuversichtlich vergehendes Licht, Mondhof.
Überlegte Sophie, das heißt träumte sie, so nahm sie meistens auf ihrem knarrenden Stühlchen, dem stolzen Schloß einiger Holzwürmer, Platz.
Sie fragte auf ihrem Stühlchen sitzend die Nacht: „Wer hat alle diese Sterne ausgeatmet?“

[…]

Sie malte den Weg, der in den sonnengoldenen Kreis führt.

[…]

Sie malte das Innere einer Blume.
… einen Kreis, der sich als Blume verkleidet.
… die Spur des schön Gesprochenen.
… die Bahn der Sphärenaugen.
Traumzepter.
Atmende Säulen.

[…]

Sie belauschte die duftende Farbensprache der Pflanzen.
(Arp III, S. 70ff.)

Ich denke, nicht nur der atmenden Säulen wegen sind hier manche Korrespondenzen zu entdecken. Ich wünsche Ihnen einen ebenso anregenden wie vergnüglichen Gang durch die Ausstellung.


Copyright Günter Bonheim


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